Die maroden belgischen Atomkraftwerke Tihange und Doel machen nicht nur den Grünen Sorgen. Die Fraktion bittet deshalb OB Scholten mittels eines Offenen Briefes, der gegen deren Weiterbetrieb juristisch vorgehenden Städte-Region Aachen die Solidarität Mülheims zu übermitteln. Darüber hinaus soll die Stadt den Klagen beitreten.
„Im Falle einer Kernschmelze wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch“, stellt Brigitte Erd, Vorsitzende des Umweltausschusses fest, „dass radioaktive Wolken und deren Fallout recht schnell Mülheim erreichen.“ Der vorherrschende Wind vom Meer her aus Westen gebe zu solchen Befürchtungen Anlass. Die katastrophalen Folgen möge man sich lieber nicht ausmalen.
Eine Reihe von Städten, sagt Hermann Stollen, energiepolitischer Sprecher der Grünen, habe sich den Klagen bereits angeschlossen. Ermutigt würden sie darin durch Stellungnahmen von Bundes- und Landesregierung, die gegenüber Belgien bisher vergeblich auf den Verzicht der Wiederinbetriebnahme besonders gefährlicher Kraftwerksblöcke drängten. Mülheim solle, ruft Stollen auf, ebenso wie andere Ruhrstädte Flagge zeigen.
Die Reaktorblöcke Tihange 1 und Doel 1 gehören zu den ältesten in Europa. Tihange 2 und Doel 3 weisen Tausende von Rissen auf; ein Abklingbecken verliert seit Jahren radioaktives Wasser.
Brigitte Erd / Hermann Stollen
Offener Brief
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
wie Sie wissen, betreibt der Energiekonzern Elecstrabel in Belgien, etwa 60 km westlich von Aachen, das Atomkraftwerk Tihange mit insgesamt drei sowie bei Antwerpen das AKW Doel mit vier Blöcken. In den letzten Jahren kam es in beiden Anlagen zu einer Vielzahl von Störfällen.
Etliche Male mussten die verschiedenen Reaktoren infolge von Bränden, Ausfall von Pumpen usw. notabgeschaltet werden. Ein Abklingbecken verliert in Tihange seit Jahren radioaktives Wasser, ohne dass die Ursache geklärt wäre. Auf dem Gelände des Atomkraftwerks Tihange wurde eine scharfe Bombe aus dem Ersten Weltkrieg gefunden. Mitarbeiter des Kontrollraums wurden wegen Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften vom Dienst suspendiert. Alle 1.000 Beschäftigten wurden wegen mangelhafter Sicherheitskultur zu Nachschulungen beordert. Im Atomkraftwerk Doel gab es 2014 einen Sabotageakt von Mitarbeitern, der zur Notabschaltung eines Blocks führte und bis heute nicht aufgeklärt ist.
Besonders problematisch sind aktuell zwei politische Entscheidungen:
Die belgische Regierung genehmigte den Weiterbetrieb der Blöcke Tihange 2 und Doel 3, obwohl die Druckbehälter dieser Reaktoren tausende Risse aufweisen. Deren Ursache ist umstritten und selbst atomkraftbefürwortende Fachleute halten den Weiterbetrieb dieser Reaktoren für unverantwortlich. (Der Druckbehälter ist das entscheidende Bauteil zum Schutz der Umgebung vor Radioaktivität.)
2014 beschloss die belgische Regierung, die ältesten Reaktorblöcke Tihange 1 und Doel 1 als auch 2 (Inbetriebnahme 1975) nicht – wie seit 2003 geplant – 2015 stillzulegen, sondern die Laufzeiten um zehn Jahre bis 2025 zu verlängern. Diese Reaktorblöcke gehören zu den ältesten in Betrieb befindlichen Atomkraftwerken Europas.
Gegen den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke Tihange und Doel gibt es nicht nur in Belgien, sondern auch in den Niederlanden und Deutschland erheblichen Widerstand. Sowohl Bundes- als auch Landesregierung machten deutlich, die beiden AKW als Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung einzustufen. Im Falle eines Unfalls würde austretende Radioaktivität bei den vorherrschenden Westwindlagen nach Deutschland und in die Niederlande getragen.
Die StädteRegion Aachen hat deshalb beschlossen, alle rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen, um gegen Tihange vorzugehen. Mit Unterstützung von Kanzleien in Brüssel und Düsseldorf wird sie
– Informationsansprüche nach europäischem Recht gegen die belgischen Behörden geltend machen und ggf. einklagen,
– die Europäische Kommission auffordern, ihre Informationsansprüche gegen Belgien geltend zu machen,
– eine Klage beim belgischen Staatsrat gegen die (Wieder-)Zulassung der Wiederinbetriebnahme von Tihange 2 einreichen,
– zusätzlich eine Klage vor einem ordentlichen Gericht in Brüssel, mit dem Ziel, die Stilllegung von Tihange 2 zu betreiben, einreichen.
Ergänzend wird sie Gespräche mit der Umweltschutzorganisation Greenpeace über deren Beitritt zur Klage gegen Tihange 1 oder Tihange 2 führen.
Bereits zahlreiche Kreise, Städte und Gemeinden aus der Aachener Region und darüber hinaus haben zugesagt, die Klagen zu unterstützen.
Im Falle einer Kernschmelze etc. wäre wie alle Städte in der Umgebung auch Mülheim an der Ruhr und seine Bevölkerung massivst bedroht. Atomare Wolken samt Fallout würden vor den Stadtgrenzen nicht haltmachen. Die Angst vier Bürgerinnen und Bürger davor ist nachvollziehbar.
Angesichts dessen bitten wir Sie, Herr Oberbürgermeister, im Sinne der Abwendung möglicher Gefahren für die Bürgerschaft möglichst umgehend diesbezüglich Kontakt mit der StädteRegion Aachen aufzunehmen und ihr zu versichern, dass Mülheim an ihrer Seite steht. Darüber hinaus regen wir an, dass unsere Stadt den Klagen gegen den Betrieb der Atomkraftwerke Tihange und Doel in Belgien beitritt.
Mit freundlichen Grüßen
Brigitte Erd
Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt und Energie
Hermann Stollen
Stadtverordneter, umwelt- und energiepolitischer Sprecher